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Der Kirchentag isst grün: 600.000 ökofaire Mahlzeiten in fünf Tagen

Von der gastronomischen Vielfalt auf dem 35. Evangelischen Kirchentag in Stuttgart

Ich lese:
„Der DEKT (Anm. Deutscher Evangelischer Kirchentag) setzt sich das Ziel bis zum Jahr 2019 in den vom DEKT selbst verantworteten Bereichen[…] vollständig auf ökologische und faire Produkte umzustellen.“ (Quelle: Präsidium Januar 2013 Hildesheim, TOP 4 öko-faire Verpflegung)

Kirchentag

Foto: grossküchentechnik-blog.de

rechne:
100.000 Teilnehmer, 20.000 Gäste, mal 5 Tage ergibt geschätzte 600.000 Mahlzeiten

zweifle:
600.000 ökofaire Mahlzeiten in fünf Tagen – ist so etwas überhaupt möglich?

und will es wissen:
Ein Bericht über die gastronomische Vielfalt
auf dem 35. Evangelischen Kirchentag
in Stuttgart.

Es ist Donnerstag, der 04.Juni.2015. Ich sitze auf dem Gepäckrost des IC 2065 nach Stuttgart. Um mich herum sitzen und stehen (sehr) viele erwartungsvoll gestimmte Menschen. Wir alle wollen zum Kirchentag und wir alle reisen schon mal ökofair, heißt umweltfreundlich, mit der Bahn an.

Vom Hauptbahnhof Stuttgart geht es weiter mit der U-Bahn zum Neckarpark. Das insgesamt 55 Hektar große Areal mit Cannstatter Wasen, der Hanns-Martin-Schleyer-Halle und mehreren Arenen ist einer der zentralen Bereiche des Kirchentages.

Hierher zu kommen ist ein Muss für jeden Teilnehmer und jeden Besucher: aus der ganzen Welt kommend, von jung bis alt, von Single bis zur Familie, aus Stadt und vom Land, konventionell, vegetarisch oder vegan, Teilnehmer, Helfer oder Mitwirkender. Genauso bunt gemischt wie die Besucherstruktur ist dementsprechend das gastronomische Angebot.

„Wichtig für den Erfolg ist, der Bandbreite an Geschmäckern gerecht zu werden und die Erfordernisse der jeweiligen Zielgruppe zu berücksichtigen“. Und nicht nur das: „Grün“ soll es sein, ökologisch, fair, regional und saisonal, so lautet die Vorgabe,

Wer es wollte kann hier eine Lehrstunde über gastronomische Konzepte nehmen:

Helferverpflegung – 5000 Essen in Selbstbedienung

Kirchentag

Foto: grossküchentechnik-blog.de

Mein erster Weg führt mich zur Helferverpflegung, ein großes Zelt etwas abseits vom eigentlichen Geschehen. Es ist kurz vor 11:00 Uhr, die ersten Hungrigen warten bereits darauf, eingelassen zu werden. Noch sind die Bänke und Tische leer und die Küchencrew ist bei den letzten Vorbereitungen an den sechs Ausgabestationen. In Kürze werden sich hier lange Schlangen bilden – im Schnitt 1200 Gäste pro Stunde.

Soll alles reibungslos ablaufen, muss vorher gut organisiert und vorbereitet werden. „Wir von Kommando Verpflegung haben uns auf solche Großveranstaltungen spezialisiert“ sagt Firmeninhaber Matthias Fischer. „Insofern fühlen wir uns für die Herausforderung hier auf dem Kirchentag gut gerüstet.“ Seit gut einem Jahr wird auf die Tage hier in Stuttgart hingearbeitet.

Mit 24 Mitarbeitern, fünf 150 Liter Kochkesseln, fünf 80 Liter Kippbratpfannen und Backöfen mit insgesamt 83 Einschubmöglichkeiten und großen Kühlcontainern wird dafür gesorgt, dass auch ja niemand hungrig bleibt. Die Kocheräte gehören der Kommando Verpflegung. So ist sicher, dass alles genau so funktioniert und benutzt werden kann, wie es sein soll. Schließlich muss jeder Handgriff sitzen.

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Foto: grossküchentechnik-blog.de

Der Gast wird an einer der sechs Inline-Stationen zunächst an die Kaltausgabe für acht(!) verschiedene Salate geleitet, um sich anschließend an der Warmausgabe vom Hauptgericht zu nehmen. Diese Reihenfolge ist durchdacht und gewollt, hat man doch festgestellt, dass die Menge dessen, was auf die Teller gehäuft wird vom Anfang zum Ende hin abnimmt. Folgerichtig ist die erste Wahlmöglichkeit der kirchentags-korrekte Salat und die letzte das Fleischgericht. Alles ökologisch einwandfrei, versichert mir Matthias Fischer.

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Foto: grossküchentechnik-blog.de

Weit und breit entdecke ich keine Spülmaschine. Wo werden dann die mindestens 5000 Teller gespült? Des Rätsels Lösung: es wird Mehrweg-Plastikgeschirr verwendet. Unter optischen Gesichtpunkte eher keine optimale Lösung, aber hier muss wohl gelten: form follows function – kein Bruch, zum Mitnehmen nicht schön genug und mit wesentlich geringerem Gewicht beim Transport zum externen Spül-Dienstleister.

Heute gibt es neben den Salaten drei verschiedene Currys. Ob es schmeckt? Zustimmendes Nicken in der Runde. Gut, nein sehr gut sogar. „Viel besser als manches Jahr davor“. Die meisten Gäste müssen es wissen, die Zahl der regelmäßg Helfenden ist groß.

Das Gläserne Restaurant – 1200 Essen mit Bedienung

Inzwischen ist es Mittag, die Sonne brennt auf das nahezu baumlose Gelände und wo immer es etwas zu Essen oder zu Trinken gibt, bilden sich lange Schlangen. Ich schlendere einmal über das ganze Gelände zu meinem nächsten Ziel: dem Gläsernen Restaurant – einer Initiative von Küchenleiterinnen, Köchen und Studienleitern verschiedener evangelischer Akademien und Tagungsstätten.

„Das „Gläserne Restaurant“ will zeigen, dass in der Gemeinschaftsverpflegung genauso wie im Bereich privater Haushalte eine rundum ökologisch verträgliche Küche mit saisonalem, regionalem, ökologischem sowie fairem Einkauf zu vertretbaren Kosten möglich ist“  (was für ein Satz und was für ein Anspruch).

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Foto: grossküchentechnik-blog.de

Auch hier stehen bereits viele Menschen vor den beiden Eingängen. Dass sich die Schlangen in Grenzen halten ist offensichtlich der guten Organisation zu verdanken. Mit dem Besteck in der Hand als Erkennungszeichen, dass man sein Essen bezahlt hat, wird man zügig von einer freundlichen Servicekraft zu seinem Platz geleitet.

Das Gläserne Restaurant bietet Platz für etwa 300 Gäste. In den zweieinhalb Stunden, die das Restaurant seine Pforten öffnet, werden etwa 1000 Essen serviert. Das Menu besteht immer aus zwei Gängen: an einem Tag Vorspeise und Hauptgericht, am anderen Hauptgericht und Nachspeise.

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Foto: grossküchentechnik-blog.de

Heute stehen „Alblinsen mit getrockneten Mangos in Mangodressing und Zwiebelsprossen“ und „Orecchiette mit Spargel und frischem Ruccola“ auf dem Speiseplan. Auch hier alles öko versichert mir Enno Nottelmann, der für das Gläserne Restaurant während des Kirchentags seinen angestammten Beruf mit dem Ehrenamt tauscht.

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Foto: grossküchentechnik-blog.de

Von der „gläsernen“ Speisenzubereitung ist zumindestens gerade jetzt nicht viel zu sehen. Die meiste Aktivität findet in der Spülküche statt, in der Küche ist leider außer einem Koch, der gerade die Kippbratpfanne reinigt, und drei Helferinnen, die Erdbeeren entstielen nichts sonderlich interessantes zu sehen. Ich habe allerdings auch nicht den Eindruck als würde sich außer mir noch jemand für das Geschehen in der gläsernen Küche interessieren. Nun ja, sogar mir als per se interessiertem Küchenbetrachter fällt es schwer mich für die drei Rational Heißluftdämpfer, drei nicht mehr ganz taufrischen Kippbratpfannen und einen Hockerkocher zu begeistern.

Also schaue ich mir lieber die Gäste an. Irgendwie scheinen sich hier alle anderen irgendwie zu kennen, was wohl daran liegt, dass das Gläserne Restaurant inzwischen zu einer Art Institution geworden ist.

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Foto: grossküchentechnik-blog.de

Neben mir sitzt ein Ehepaar, dass alle Evangelischen Kirchentage der letzten Jahre besucht hat und regelmäßiger Gast im Gläsernen Restaurant ist. „Wir schätzen die Qualität und den freundlichen Service“. Sicherlich auch nicht unwichtig (zumindestens an diesem so heißen Vorsommertag) – man kann sitzen und es ist schattig. Ob denn der Besuch im Restaurant dazu führen würde, dass nun zuhause auch mal ökofair gekocht wird? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Antwort mir zu Liebe oder aus echter ökofairer Gesinnung lautet: „Ja, schon. Nicht immer. Aber die Linsen werden wir nachkochen, auch wenn es bei uns wohl keine von der Alb sein werden“.

„Das „Gläserne Restaurant“ veranschaulicht, welcher Ressourcenaufwand in unserem täglich Brot steckt. Es schärfte den Blick für Abläufe und Zusammenhänge, um tägliche Einkaufsentscheidungen jeder Kirchentagsbesucherin und jedes -besuchers bewusst zu machen.“ Ich schaue mich um. Der Anspruch scheint mir doch ein wenig sehr hoch. Schließlich ist doch viel erreicht, wenn heute 1200 Gäste köstliche Alblinsen und Orecchiette mit freundlichem und aufmerksamen Service genossen und sich gefreut haben auch dieses Jahr wieder hier zu sein.

Naturkostmarkt – Street Food – „von der Hand in den Mund“

Es dauert eine Weile bis ich verstehe, dass der Naturkostmarkt nichts mit dem Markt, den ich von zuhause kenne, auf dem die Bauern der näheren Umgebung ihre Waren anbieten, zu tun hat, sondern eher eine ansehnliche Sammlung von dem, was heute so gerne Street Food genannt wird, gemeint ist.

Kirchentag

Es ist so ziemlich alles vertreten, was das vegetarisch-vegane Ökoherz höher schlagen lässt: veganer Cajun Country Sandwich, Maultäschle ehrlich lecker frisch vor Ort, veganes Eis – ohne Chemie – ohne Farbstoffe – ohne Aromen (schon mal Ziege Nougat probiert?), Raclette-ria&Tapas, um nur einige aufzuzählen.

Kirchentag_19Fazit:  Seit ich das Kirchentagsgelände betreten habe, versuche ich die Atmosphäre hier in Worte zu fassen. Als ich bei Las Vegans zuschaue, mit welcher Hingabe hier handmade  ein Cajun Country Sandwich entsteht, während nebenan backstage zwei Frauen mit der Hand Kartoffeln schälen, wird mir klar: der Kirchentag ist zwar eine sehr große aber keine Großveranstaltung im eigentlichen Sinn. Irgendwie scheint das Leben hier entschleunigt. Keiner meckert, weil die Schlangen immer länger werden, keiner drängelt. Alle, die ich getroffen und mit denen ich gesprochen habe, sind unwahrscheinlich nett, hilfsbereit und vor allem entspannt.

Und was ist mit der gastronomischen Vielfalt? Für jeden, der einen entsprechenden Preis zu zahlen bereit ist, gibt es das passende Angebot. Schade eigentlich, dass der preisgünstige Eintopf früherer Jahre für diejenigen, die mit jedem „Pfennig“ rechnen müssen, so völlig von der Bildfläche verschwunden ist. Dabei könnte man den doch ökofair aus „geretteten“ Lebensmitteln herstellen.

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